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Monday, July 22, 2019

In Leipzig 65 Jahre Sprachforschung zu Namen und Besiedlung seit dem frühen Mittelalter

Prof. Dr. Karlheinz Hengst

Vor nunmehr 65 Jahren startete die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in Kooperation mit der Universität ein zu jener Zeit deutschlandweit einzigartiges Forschungsprojekt. Mit besonderer Unterstützung durch den damaligen Akademie-Präsidenten Theodor Frings begannen die „Deutsch-Slawischen Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte“ mit ihrem Arbeitsstellensitz in der Abteilung Landesgeschichte der Leipziger Universität. Projektleiter war der Slavist Prof. Dr. Rudolf Fischer (†1971).
Gerald Müller-Simon, Augustusplatz, Kustodie der Universität Leipzig, Foto: Marion Wenzel

Vorausgegangen war eine lange Vorgeschichte. In Sachsen hatten vor allem die vielen slawischen Ortsnamen (ON) schon seit dem 18. Jahrhundert das Interesse von Historikern und Sprachforschern geweckt. Im 19. Jh. hatte der Gymnasiallehrer Gustav Hey eine Monographie über die slawischen Siedlungsnamen im Königreich Sachsen publiziert (Dresden1893). Die eigentliche universitäre Erforschung setzte aber erst mit der Berufung des Slavisten Reinhold Trautmann an die Universität in Leipzig 1926 ein. In einer allein von ihm betriebenen und damit quasi individuellen Forschungsphase bis 1948 legte er drei Bände zu genuin slawischen ON vor. Diese widmeten sich ganz dem elb- und ostseeslawischen Sprachraum einschließlich Schleswig-Holstein und erschienen in den Jahren 1948, 1949 und 1950 im Akademie-Verlag in Berlin.

Auf diese ganz individuell betriebene Vorlaufforschung folgte in Leipzig an der Universität in den Jahren von 1948 bis 1953 eine deutlich breiter angelegte interdisziplinäre Vorbereitungsphase auf Forschungen zum slawisch-deutschen Siedlungsgebiet östlich von Elbe und Saale. Diese Jahre sind charakterisiert durch eine ganz neue Qualität in den Forschungsbestrebungen. Aus der Landesgeschichtsforschung im Rahmen der „Kötzschke-Schule“ war die Erkenntnis erwachsen, historisch tradierte Quellen in Zusammenarbeit zwischen Historikern, Geographen, Archäologen und Sprachforschern auszuwerten und für Sprach- sowie Siedlungsgeschichte gleichermaßen wissenschaftlich aufzubereiten. Dazu bekannten sich der Germanist Ludwig Erich Schmitt, der Landeshistoriker Walter Schlesinger und der Slavist Reinhold Olesch. Sie begannen mit der für solche Forschung notwendigen Ausbildung des studentischen Nachwuchses. Es gelang ihnen, für das Vorhaben Begeisterung und anhaltendes Interesse zu erwecken. Doch die damalige Hochschulpolitik im Osten Deutschlands mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber sogen. „bürgerlichen Wissenschaftlern“ brachte die guten Absichten zum Scheitern. Alle drei Hochschullehrer verließen nach und nach Leipzig und gingen an die Universitäten Köln und Marburg.

Der für eine gründliche Bearbeitungsphase von Toponymen im einstmaligen altsorbischen Sprachraum südlich von Magdeburg ausgebildete und leistungswillige philologische Nachwuchs fand in dem Germanisten Theodor Frings und dem Slavisten Rudolf Fischer (vorher Jena) glücklicherweise zwei Gelehrte, die den Faden aufnahmen und das ab 1954 über 50 Jahre laufendes Langzeitprojekt Deutsch-Slawische Forschungen auf den Weg brachten. Rudolf Fischer war dabei die treibende Kraft. Er hatte in Prag studiert und promovierte dort mit einer Dissertation zu den slawischen Ortsnamen des Egerlandes (1936), veröffentlichte eine Namenkunde des Egerlandes (1940) und habilitierte sich in Jena mit einer Schrift zu Toponymen im westlichen Böhmen und in seiner Nachbarschaft (1950). R. Fischer hat das bleibende Verdienst, Theorie und Methode der langjährigen Namenforschung unter Leitung des Germanisten Ernst Schwarz an der Prager Universität in Leipzig vermittelt und fortgeführt zu haben. Ihm sind auch die ersten internationalen Aktivitäten von Leipzig aus mit Tagungen und neuen Publikationsmöglichkeiten zu verdanken. Sehr umsichtig gingen von R. Fischer bis 1969 unablässig Anregungen und Impulse aus, die durch seine engsten Mitarbeiter weiterentwickelt wurden und die Erfolge der Sprachforschung in Leipzig zum Komplex von Sprache, Geschichte und Besiedlung in der Folgezeit ausmachten. Gleich nach der Wende hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt nach positiver Evaluierung weiter gefördert und sogar zusätzlich eine Arbeitsstelle an der Sächs. Akademie zu Leipzig zum Thema „Atlas altsorbischer Ortsnamentypen“ (Leitung Inge Bily) eingerichtet sowie die Publikation gesichert (2000-2004).

Getragen wurde die Forschungsarbeit ab 1954 bis Anfang der 90er Jahre, also für vier Jahrzehnte, entscheidend von Ernst Eichler und Hans Walther. In den Anfangsjahren hat die rührige Indogermanistin Elfriede Ulbricht, Mitarbeiterin von Theodor Frings beim Althochdeutschen Wörterbuch an der Akademie, für Germanisten regelmäßig Seminare zum Thema „Einführung in die Namenforschung“ angeboten. Von ihr besitzt die Forschung auch die erste große Monographie zur Hydronymie in Mitteldeutschland mit dem Band „Das Flußgebiet der Thüringischen Saale“ (1957). An der Forschungsarbeit beteiligt waren sonst nur „freie Mitarbeiter“. Das waren wissenschaftlich interessierte Germanisten und Slavisten, die außerhalb der Universität tätig waren und eine Promotion in einem ideologiefreien Themenbereich anstrebten. Betreut wurden sie ab 1954 von den ersten hauptamtlichen Forschungskräften Ernst Eichler (Slavistik), Hans Walther (Siedlungsgeschichte und Germanistik) und 1956-1962 auch von Horst Naumann (Dialektologie, Phonologie und Wortbildung). Hauptamtliche Forschungsstellen erhielten erst ab Mitte der 60er Jahre Johannes Schultheis und in den 70er Jahren die dann unablässig wirkenden Mitglieder der Forschungsgruppe Inge Bily und Ernst-Michael Christoph.

Aus dem ursprünglich kleinen Forschungsteam sind namhafte Wissenschaftler hervorgegangen. Ernst Eichler und Hans Walther haben kontinuierlich – und ab Anfang der 70er Jahre als Professoren – die weltweit anerkannte „Leipziger Onomastische Schule“ begründet, in der auch besonders die „Sprachkontaktforschung“ gepflegt und theoretisch sowie methodisch weiterentwickelt wurde. Noch vor dem „Mauerbau“ 1961 gingen leider Wissenschaftler mit heute bekannten Namen in der Germanistik allgemein und in der Namenforschung speziell wie Herbert Wolf, Wilfried Seibicke und Joachim Göschel von Leipzig weg „in den Westen“. Im „Osten“ führten das Werk ihrer akademischen Lehrer fort die Germanisten Rudolf Große, Wolfgang Fleischer, Horst Naumann und Volkmar Hellfritzsch. Als Slavisten sind hier zu nennen Wolfgang Sperber, Dietrich Freydank, Gerhard Schlimpert, Walter Wenzel und Karlheinz Hengst. Noch heute sind in Leipzig mit namenkundlicher Kompetenz tätig Dietlind Kremer (seit 1989) als Leiterin von Namenauskunft und Namenberatung (unter Mitarbeit von Gabriele Rodríguez seit 1994) sowie Christian Zschieschang am GWZO bzw. jetzt Leibniz-Institut (seit 1998). Dietlind Kremer verantwortet zugleich auch das „Namenkundliche Zentrum“ an der Universität mit der in Mitteleuropa einzigen umfangreichen Spezialsammlung onomastischer Fachliteratur zu den germanischen, romanischen und slawischen Sprachen Europas. 

Dauerhaftes Zeugnis von den erfolgreichen Forschungen zur Namenkunde bis heute legen einerseits zahlreiche ungedruckte Dissertationen und andererseits besonders überzeugend die Leipziger Publikationen ab. Genannt seien die von 1956 bis 2007 im Akademie-Verlag erschienenen 41 Bände der Reihe „Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte“, 25 Bände der Reihe „Onomastica Slavogermanica“, dazu die internationale Fachzeitschrift „Namenkundliche Informationen/Journal of Onomastics“ mit ihren bisher 55 Jahresbänden und 26 Beiheften (zumeist Monographien), seit 1992 vom Universitätsverlag Leipzig verlegt. Der Domowina-Verlag in Bautzen hat den komplizierten Druck des ersten Lexikons aller slawischen Ortsnamen zwischen Saale und Neiße von Ernst Eichler in 4 Bänden (1985-2009) ermöglicht, ebenso insgesamt 8 Bände zu sorbischen Anthroponymen (1987-2017) sowie 2 Bände zu den Toponymen in der Nieder- und Oberlausitz (2006, 2008) von Walter Wenzel und eine Schrift „Zur Integration sorbischer Personennamen ins Deutsche“ (2016) von Volkmar Hellfritzsch.

Die aus der Leipziger Schule in den 90er Jahren hervorgegangenen Philologen Andrea und Silvio Brendler haben unter breiter Mitarbeit engagierter WissenschaftlerInnen im Eigenverlag baar in Hamburg ein umfassendes Lehrbuch für das Studium der Onomastik unter dem Titel „Namenarten und ihre Erforschung“ (2004) und ein Handbuch „Europäische Personennamensystem“ (2007) ediert. Silvio Brendler hat seine Wiener Habilitationsschrift „Nomematik – Identitätstheoretische Grundlagen der Namenforschung“ (2008) herausgebracht. Und neben einer Reihe weiterer onomastischer Werke aus dem baar-Verlag sind 4 Bände mit jeweils thematisch gesammelten Aufsätzen von Walter Wenzel zu slawischen Namen erschienen. Ebenso wurden bei baar verlegt die „(Ostmittel-)Deutsche Namenkunde“ von Volkmar Hellfritzsch (2010) und zwei Bände zu „Namen in Sprache und Gesellschaft“ von Horst Naumann (2011). Der Praesens-Verlag in Wien hat auf Initiative des österreichischen Sprachforschers Peter Ernst den Sammelband „Sprachkontakte, Sprachstudien und Entlehnungen im östlichen Mitteldeutschland seit einem Jahrtausend“ von Karlheinz Hengst herausgebracht (2014).

Die historisch orientierte Sprachforschung zu vor allem Orts-, Flur- und Personennamen im deutsch-slawischen Kontaktraum seit dem frühen Mittelalter war stets gut vernetzt. Das gilt für die Zusammenarbeit mit den Linguisten an der Berliner Akademie und ihren Untersuchungen zum deutsch-polabisch-pomoranischen Sprachkontaktraum ebenso wie für die dauerhaften Kontakte zu Forschungszentren in den westlichen und östlichen Ländern. Genannt seien vor allem die beiderseitigen Beziehungen mit Wissenschaftlern in Leuven, Edinburgh, Kiel, Marburg, München, Regensburg, Trier, Wiesbaden, Wien, Innsbruck, Bern, Zürich, Uppsala, Warschau, Krakau, Breslau, Oppeln, Danzig, Prag, Brünn, Bratislava und Moskau. 

Die umfangreichen Leistungen der Leipziger Namenforschung waren nach der Wende die Basis für die Einrichtung der ersten Professur für Onomastik an einer deutschen Universität. Berufen wurde 1993 Karlheinz Hengst (aus Zwickau) und in seiner Nachfolge noch Jürgen Udolph (aus Göttingen). In dieser Zeit wurde bis 2008 der einmalige Nebenfachstudiengang „Namenforschung“ im Rahmen der Magisterausbildung mit einem ausgesprochen hohen Interesse (Numerus-clausus-Fach!) aus studentischen Kreisen betreut. Seit 2010 findet der einstige Studiengang eine reduzierte Fortführung im „Wahlfach Namenforschung“ durch Dietlind Kremer, was besondere Anerkennung verdient und ein Alleinstellungsmerkmal der Universität Leipzig darstellt. 

Auch unter den personell veränderten Bedingungen hat die Namenforschung in Leipzig die Arbeit der „Deutschen Gesellschaft für Namenforschung“ von 1990 bis 2017 getragen bzw. wirksam unterstützt. Nach Ernst Eichler übernahm den Vorsitz ab 2011 bis 2017 der Romanist Dieter Kremer (früher Trier, jetzt Leipzig). Er ist in der Onomastik international bekannt durch seine Bücher zur Namenforschung in den romanischen Sprachen sowie als Leiter und Editor des gesamtromanischen Forschungsprojekts PatRom. Von Dieter Kremer wurde das Profil der Forschung in der Gesellschaft thematisch und sprachbezogen im europäischen Sinne deutlich erweitert. Das gilt für Tagungen mit internationaler Beteiligung ebenso wie für die Fortführung der Publikationstätigkeit von „NI/Journal of Onomastics“ sowie der neuen Reihe „Onomastica Lipsiensia – Leipziger Untersuchungen zur Namenforschung“ unter der Herausgabe von Karlheinz Hengst, Dieter Kremer und Dietlind Kremer (bisher 13 Bände). Onomastische Studien sind in Leipzig auch nach dem Abschluss des großen Forschungsprojekts mit dem dreibändigen Lexikon „Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen“ [unter Einschluss eines Teiles von Ostthüringen] (2001) fortgeführt und durch Drucklegungen allgemein zugänglich gemacht worden. Das belegen Bände wie „Namenkunde und geschichtliche Landeskunde“ von Hans Walther (2004), „Eigennamen in der Arbeitswelt“ von Rosemarie Gläser (2005) das Lexikon „Personennamen Südwestsachsens“ von Volkmar Hellfritzsch (2007) und auch das zweibändige Nachschlagewerk „Familiennamen im Deutschen“, herausgegeben von Karlheinz Hengst und Dietlind Kremer (2009/11). Einbezogen wurden in die Veröffentlichungen international bekannte Forscher, so auch in den Tagungsakten „Völkernamen – Ländernamen – Landschaftsnamen“ in der Herausgeberschaft von Ernst Eichler, Heinrich Tiefenbach und Jürgen Udolph (2004), in den von Dieter Kremer und Dietlind Kremer verantworteten zwei Tagungsbänden „Die Stadt und ihre Namen“ (2012/13) sowie in den von Dieter Kremer edierten Akten von Tagungen zu den Themen „Fremde Namen“ und „Namen und Berufe“ (2016/18). Die Konferenzen mit internationalem Rahmen „Namen und Recht“ (2015) sowie „Namen und Übersetzung“ (2016) dokumentieren in den NI-Bänden in besonderem Maße die erfolgreich mögliche interdisziplinäre Kooperation im europäischen Maßstab zu Namen unter rein synchronem Aspekt. 

Der Vorsitz der „Deutschen Gesellschaft für Namenforschung“ sowie die Herausgabe der international verbreiteten onomastischen Fachzeitschrift ab Jahrgang 2018 liegt nun in den Händen von Inga Siegfried (Zürich) und Michael Prinz (Uppsala). Beide sind in der germanistischen Sprachforschung ausgewiesen. Aus Leipzig steht ihnen Christian Zschieschang im Vorstand zur Seite. Ihm verdanken wir zusammen mit Ernst Eichler die erste grundlegende Untersuchung über „Die Ortsnamen der Niederlausitz östlich der Neiße“ (2011). Wenige Jahre später folgte von Christian Zschieschang die namenkundliche Monographie „Das Hersfelder Zehntverzeichnis und die frühmittelalterliche Grenzsituation an der mittleren Saale“ (2017). Dieses Werk dokumentiert exemplarisch die von der sprachhistorischen Forschung in Leipzig stets verfolgte Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus der Archäologie wie z. B. bis zuletzt mit Gerhard Billig (†2019), Geschichts- und Siedlungsforschung (Enno Bünz, Karlheinz Blaschke, Christian Lübke, Matthias Hardt) sowie Kirchengeschichtsforschung (Walter Schlesinger, Gerhard Graf)
65 Jahre Namenforschung in Leipzig und dazu 25 Jahre Namenberatung mit alltäglicher Öffentlichkeitsarbeit haben eine breite Ausstrahlung im Land bewirkt. An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften sowie an der Philologischer Fakultät der Universität in Leipzig hat die sprachhistorische Forschung zu Eigennamen als den ältesten Denkmälern aus den europäischen Einzelsprachen eine beispielhafte Arbeit geleistet und kann eine stolze Bilanz vorweisen.

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