Prof. Dr.
Karlheinz Hengst
Vor nunmehr 65
Jahren startete die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu
Leipzig in Kooperation mit der Universität ein zu jener Zeit
deutschlandweit einzigartiges Forschungsprojekt. Mit besonderer
Unterstützung durch den damaligen Akademie-Präsidenten Theodor
Frings begannen die „Deutsch-Slawischen Forschungen zur Namenkunde
und Siedlungsgeschichte“ mit ihrem Arbeitsstellensitz in der
Abteilung Landesgeschichte der Leipziger Universität. Projektleiter
war der Slavist Prof. Dr. Rudolf Fischer (†1971).
Gerald Müller-Simon, Augustusplatz, Kustodie der Universität Leipzig, Foto: Marion Wenzel |
Vorausgegangen war
eine lange Vorgeschichte. In Sachsen hatten vor allem die vielen
slawischen Ortsnamen (ON) schon seit dem 18. Jahrhundert das
Interesse von Historikern und Sprachforschern geweckt. Im 19. Jh.
hatte der Gymnasiallehrer Gustav Hey eine Monographie über die
slawischen Siedlungsnamen im Königreich Sachsen publiziert
(Dresden1893). Die eigentliche universitäre Erforschung setzte aber
erst mit der Berufung des Slavisten Reinhold Trautmann an die
Universität in Leipzig 1926 ein. In einer allein von ihm betriebenen
und damit quasi individuellen Forschungsphase bis 1948
legte er drei Bände zu genuin slawischen ON vor. Diese widmeten sich
ganz dem elb- und ostseeslawischen Sprachraum einschließlich
Schleswig-Holstein und erschienen in den Jahren 1948, 1949 und 1950
im Akademie-Verlag in Berlin.
Auf diese ganz
individuell betriebene Vorlaufforschung folgte in Leipzig an der
Universität in den Jahren von 1948 bis 1953 eine deutlich breiter
angelegte interdisziplinäre Vorbereitungsphase auf
Forschungen zum slawisch-deutschen Siedlungsgebiet östlich von Elbe
und Saale. Diese Jahre sind charakterisiert durch eine ganz neue
Qualität in den Forschungsbestrebungen. Aus der
Landesgeschichtsforschung im Rahmen der „Kötzschke-Schule“ war
die Erkenntnis erwachsen, historisch tradierte Quellen in
Zusammenarbeit zwischen Historikern, Geographen, Archäologen und
Sprachforschern auszuwerten und für Sprach- sowie
Siedlungsgeschichte gleichermaßen wissenschaftlich aufzubereiten.
Dazu bekannten sich der Germanist Ludwig Erich Schmitt, der
Landeshistoriker Walter Schlesinger und der Slavist Reinhold Olesch.
Sie begannen mit der für solche Forschung notwendigen Ausbildung des
studentischen Nachwuchses. Es gelang ihnen, für das Vorhaben
Begeisterung und anhaltendes Interesse zu erwecken. Doch die damalige
Hochschulpolitik im Osten Deutschlands mit ihrer ablehnenden Haltung
gegenüber sogen. „bürgerlichen Wissenschaftlern“ brachte die
guten Absichten zum Scheitern. Alle drei Hochschullehrer verließen
nach und nach Leipzig und gingen an die Universitäten Köln und
Marburg.
Der für eine
gründliche Bearbeitungsphase von Toponymen im einstmaligen
altsorbischen Sprachraum südlich von Magdeburg ausgebildete und
leistungswillige philologische Nachwuchs fand in dem Germanisten
Theodor Frings und dem Slavisten Rudolf Fischer (vorher Jena)
glücklicherweise zwei Gelehrte, die den Faden aufnahmen und das ab
1954 über 50 Jahre laufendes Langzeitprojekt
Deutsch-Slawische Forschungen auf den Weg brachten. Rudolf
Fischer war dabei die treibende Kraft. Er hatte in Prag studiert und
promovierte dort mit einer Dissertation zu den slawischen Ortsnamen
des Egerlandes (1936), veröffentlichte eine Namenkunde des
Egerlandes (1940) und habilitierte sich in Jena mit einer Schrift zu
Toponymen im westlichen Böhmen und in seiner Nachbarschaft (1950).
R. Fischer hat das bleibende Verdienst, Theorie und Methode der
langjährigen Namenforschung unter Leitung des Germanisten Ernst
Schwarz an der Prager Universität in Leipzig vermittelt und
fortgeführt zu haben. Ihm sind auch die ersten internationalen
Aktivitäten von Leipzig aus mit Tagungen und neuen
Publikationsmöglichkeiten zu verdanken. Sehr umsichtig gingen von
R. Fischer bis 1969 unablässig Anregungen und Impulse aus, die durch
seine engsten Mitarbeiter weiterentwickelt wurden und die Erfolge der
Sprachforschung in Leipzig zum Komplex von Sprache, Geschichte und
Besiedlung in der Folgezeit ausmachten. Gleich nach der Wende hat die
Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt nach positiver
Evaluierung weiter gefördert und sogar zusätzlich eine
Arbeitsstelle an der Sächs. Akademie zu Leipzig zum Thema „Atlas
altsorbischer Ortsnamentypen“ (Leitung Inge Bily) eingerichtet
sowie die Publikation gesichert (2000-2004).
Getragen wurde die
Forschungsarbeit ab 1954 bis Anfang der 90er Jahre, also für vier
Jahrzehnte, entscheidend von Ernst Eichler und Hans Walther. In den
Anfangsjahren hat die rührige Indogermanistin Elfriede Ulbricht,
Mitarbeiterin von Theodor Frings beim Althochdeutschen Wörterbuch an
der Akademie, für Germanisten regelmäßig Seminare zum Thema
„Einführung in die Namenforschung“ angeboten. Von ihr besitzt
die Forschung auch die erste große Monographie zur Hydronymie in
Mitteldeutschland mit dem Band „Das Flußgebiet der Thüringischen
Saale“ (1957). An der Forschungsarbeit beteiligt waren sonst nur
„freie Mitarbeiter“. Das waren wissenschaftlich interessierte
Germanisten und Slavisten, die außerhalb der Universität tätig
waren und eine Promotion in einem ideologiefreien Themenbereich
anstrebten. Betreut wurden sie ab 1954 von den ersten hauptamtlichen
Forschungskräften Ernst Eichler (Slavistik), Hans Walther
(Siedlungsgeschichte und Germanistik) und 1956-1962 auch von Horst
Naumann (Dialektologie, Phonologie und Wortbildung). Hauptamtliche
Forschungsstellen erhielten erst ab Mitte der 60er Jahre Johannes
Schultheis und in den 70er Jahren die dann unablässig wirkenden
Mitglieder der Forschungsgruppe Inge Bily und Ernst-Michael
Christoph.
Aus dem ursprünglich
kleinen Forschungsteam sind namhafte Wissenschaftler hervorgegangen.
Ernst Eichler und Hans Walther haben kontinuierlich – und ab Anfang
der 70er Jahre als Professoren – die weltweit anerkannte „Leipziger
Onomastische Schule“ begründet, in der auch besonders die
„Sprachkontaktforschung“ gepflegt und theoretisch sowie
methodisch weiterentwickelt wurde. Noch vor dem „Mauerbau“ 1961
gingen leider Wissenschaftler mit heute bekannten Namen in der
Germanistik allgemein und in der Namenforschung speziell wie Herbert
Wolf, Wilfried Seibicke und Joachim Göschel von Leipzig weg „in
den Westen“. Im „Osten“ führten das Werk ihrer akademischen
Lehrer fort die Germanisten Rudolf Große, Wolfgang Fleischer, Horst
Naumann und Volkmar Hellfritzsch. Als Slavisten sind hier zu nennen
Wolfgang Sperber, Dietrich Freydank, Gerhard Schlimpert, Walter
Wenzel und Karlheinz Hengst. Noch heute sind in Leipzig mit
namenkundlicher Kompetenz tätig Dietlind Kremer (seit 1989) als
Leiterin von Namenauskunft und Namenberatung (unter Mitarbeit von
Gabriele Rodríguez seit 1994) sowie Christian Zschieschang am GWZO
bzw. jetzt Leibniz-Institut (seit 1998). Dietlind Kremer verantwortet
zugleich auch das „Namenkundliche Zentrum“ an der Universität
mit der in Mitteleuropa einzigen umfangreichen Spezialsammlung
onomastischer Fachliteratur zu den germanischen, romanischen und
slawischen Sprachen Europas.
Dauerhaftes Zeugnis
von den erfolgreichen Forschungen zur Namenkunde bis heute legen
einerseits zahlreiche ungedruckte Dissertationen und andererseits
besonders überzeugend die Leipziger Publikationen ab. Genannt seien
die von 1956 bis 2007 im Akademie-Verlag erschienenen 41 Bände der
Reihe „Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und
Siedlungsgeschichte“, 25 Bände der Reihe „Onomastica
Slavogermanica“, dazu die internationale Fachzeitschrift
„Namenkundliche Informationen/Journal of Onomastics“ mit ihren
bisher 55 Jahresbänden und 26 Beiheften (zumeist Monographien), seit
1992 vom Universitätsverlag Leipzig verlegt. Der Domowina-Verlag in
Bautzen hat den komplizierten Druck des ersten Lexikons aller
slawischen Ortsnamen zwischen Saale und Neiße von Ernst Eichler in 4
Bänden (1985-2009) ermöglicht, ebenso insgesamt 8 Bände zu
sorbischen Anthroponymen (1987-2017) sowie 2 Bände zu den Toponymen
in der Nieder- und Oberlausitz (2006, 2008) von Walter Wenzel und
eine Schrift „Zur Integration sorbischer Personennamen ins
Deutsche“ (2016) von Volkmar Hellfritzsch.
Die aus der
Leipziger Schule in den 90er Jahren hervorgegangenen Philologen
Andrea und Silvio Brendler haben unter breiter Mitarbeit engagierter
WissenschaftlerInnen im Eigenverlag baar in Hamburg ein umfassendes
Lehrbuch für das Studium der Onomastik unter dem Titel „Namenarten
und ihre Erforschung“ (2004) und ein Handbuch „Europäische
Personennamensystem“ (2007) ediert. Silvio Brendler hat seine
Wiener Habilitationsschrift „Nomematik – Identitätstheoretische
Grundlagen der Namenforschung“ (2008) herausgebracht. Und neben
einer Reihe weiterer onomastischer Werke aus dem baar-Verlag sind 4
Bände mit jeweils thematisch gesammelten Aufsätzen von Walter
Wenzel zu slawischen Namen erschienen. Ebenso wurden bei baar verlegt
die „(Ostmittel-)Deutsche Namenkunde“ von Volkmar Hellfritzsch
(2010) und zwei Bände zu „Namen in Sprache und Gesellschaft“ von
Horst Naumann (2011). Der Praesens-Verlag in Wien hat auf Initiative
des österreichischen Sprachforschers Peter Ernst den Sammelband
„Sprachkontakte, Sprachstudien und Entlehnungen im östlichen
Mitteldeutschland seit einem Jahrtausend“ von Karlheinz Hengst
herausgebracht (2014).
Die historisch
orientierte Sprachforschung zu vor allem Orts-, Flur- und
Personennamen im deutsch-slawischen Kontaktraum seit dem frühen
Mittelalter war stets gut vernetzt. Das gilt für die Zusammenarbeit
mit den Linguisten an der Berliner Akademie und ihren Untersuchungen
zum deutsch-polabisch-pomoranischen Sprachkontaktraum ebenso wie für
die dauerhaften Kontakte zu Forschungszentren in den westlichen und
östlichen Ländern. Genannt seien vor allem die beiderseitigen
Beziehungen mit Wissenschaftlern in Leuven, Edinburgh, Kiel, Marburg,
München, Regensburg, Trier, Wiesbaden, Wien, Innsbruck, Bern,
Zürich, Uppsala, Warschau, Krakau, Breslau, Oppeln, Danzig, Prag,
Brünn, Bratislava und Moskau.
Die umfangreichen
Leistungen der Leipziger Namenforschung waren nach der Wende die
Basis für die Einrichtung der ersten Professur für Onomastik an
einer deutschen Universität. Berufen wurde 1993 Karlheinz Hengst
(aus Zwickau) und in seiner Nachfolge noch Jürgen Udolph (aus
Göttingen). In dieser Zeit wurde bis 2008 der einmalige
Nebenfachstudiengang „Namenforschung“ im Rahmen der
Magisterausbildung mit einem ausgesprochen hohen Interesse
(Numerus-clausus-Fach!) aus studentischen Kreisen betreut. Seit 2010
findet der einstige Studiengang eine reduzierte Fortführung im
„Wahlfach Namenforschung“ durch Dietlind Kremer, was besondere
Anerkennung verdient und ein Alleinstellungsmerkmal der Universität
Leipzig darstellt.
Auch unter den
personell veränderten Bedingungen hat die Namenforschung in Leipzig
die Arbeit der „Deutschen Gesellschaft für Namenforschung“ von
1990 bis 2017 getragen bzw. wirksam unterstützt. Nach Ernst Eichler
übernahm den Vorsitz ab 2011 bis 2017 der Romanist Dieter Kremer
(früher Trier, jetzt Leipzig). Er ist in der Onomastik international
bekannt durch seine Bücher zur Namenforschung in den romanischen
Sprachen sowie als Leiter und Editor des gesamtromanischen
Forschungsprojekts PatRom. Von Dieter Kremer wurde das Profil der
Forschung in der Gesellschaft thematisch und sprachbezogen im
europäischen Sinne deutlich erweitert. Das gilt für Tagungen mit
internationaler Beteiligung ebenso wie für die Fortführung der
Publikationstätigkeit von „NI/Journal of Onomastics“ sowie der
neuen Reihe „Onomastica Lipsiensia – Leipziger Untersuchungen zur
Namenforschung“ unter der Herausgabe von Karlheinz Hengst, Dieter
Kremer und Dietlind Kremer (bisher 13 Bände). Onomastische Studien
sind in Leipzig auch nach dem Abschluss des großen
Forschungsprojekts mit dem dreibändigen Lexikon „Historisches
Ortsnamenbuch von Sachsen“ [unter Einschluss eines Teiles von
Ostthüringen] (2001) fortgeführt und durch Drucklegungen allgemein
zugänglich gemacht worden. Das belegen Bände wie „Namenkunde und
geschichtliche Landeskunde“ von Hans Walther (2004), „Eigennamen
in der Arbeitswelt“ von Rosemarie Gläser (2005) das Lexikon
„Personennamen Südwestsachsens“ von Volkmar Hellfritzsch (2007)
und auch das zweibändige Nachschlagewerk „Familiennamen im
Deutschen“, herausgegeben von Karlheinz Hengst und Dietlind Kremer
(2009/11). Einbezogen wurden in die Veröffentlichungen international
bekannte Forscher, so auch in den Tagungsakten „Völkernamen –
Ländernamen – Landschaftsnamen“ in der Herausgeberschaft von
Ernst Eichler, Heinrich Tiefenbach und Jürgen Udolph (2004), in den
von Dieter Kremer und Dietlind Kremer verantworteten zwei
Tagungsbänden „Die Stadt und ihre Namen“ (2012/13) sowie in den
von Dieter Kremer edierten Akten von Tagungen zu den Themen „Fremde
Namen“ und „Namen und Berufe“ (2016/18). Die Konferenzen mit
internationalem Rahmen „Namen und Recht“ (2015) sowie „Namen
und Übersetzung“ (2016) dokumentieren in den NI-Bänden in
besonderem Maße die erfolgreich mögliche interdisziplinäre
Kooperation im europäischen Maßstab zu Namen unter rein synchronem
Aspekt.
Der Vorsitz der
„Deutschen Gesellschaft für Namenforschung“ sowie die Herausgabe
der international verbreiteten onomastischen Fachzeitschrift ab
Jahrgang 2018 liegt nun in den Händen von Inga Siegfried (Zürich)
und Michael Prinz (Uppsala). Beide sind in der germanistischen
Sprachforschung ausgewiesen. Aus Leipzig steht ihnen Christian
Zschieschang im Vorstand zur Seite. Ihm verdanken wir zusammen mit
Ernst Eichler die erste grundlegende Untersuchung über „Die
Ortsnamen der Niederlausitz östlich der Neiße“ (2011). Wenige
Jahre später folgte von Christian Zschieschang die namenkundliche
Monographie „Das Hersfelder Zehntverzeichnis und die
frühmittelalterliche Grenzsituation an der mittleren Saale“
(2017). Dieses Werk dokumentiert exemplarisch die von der
sprachhistorischen Forschung in Leipzig stets verfolgte
Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus der Archäologie wie z. B.
bis zuletzt mit Gerhard Billig (†2019), Geschichts- und
Siedlungsforschung (Enno Bünz, Karlheinz Blaschke, Christian Lübke,
Matthias Hardt) sowie Kirchengeschichtsforschung (Walter Schlesinger,
Gerhard Graf)
65 Jahre
Namenforschung in Leipzig und dazu 25 Jahre Namenberatung mit
alltäglicher Öffentlichkeitsarbeit haben eine breite Ausstrahlung
im Land bewirkt. An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
sowie an der Philologischer Fakultät der Universität in Leipzig hat
die sprachhistorische Forschung zu Eigennamen als den ältesten
Denkmälern aus den europäischen Einzelsprachen eine beispielhafte
Arbeit geleistet und kann eine stolze Bilanz vorweisen.
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