Rezensiert von Volkmar Hellfritzsch, Stollberg
Insbesondere die Personennamenforschung ist dem Zusammenhang von Heiligenverehrung und Namengebung schon frühzeitig nachgegangen (Anm. 1). Dennoch fehlte es bislang an Versuchen, diese Problematik im Hinblick auf andere Namenklassen und damit in komplexer Sicht der Dinge zu thematisieren. Dem schafft vorliegende Publikation erstmalig insofern Abhilfe, als die hier vereinten Beiträge eine Vielzahl diesbezüglicher Sachverhalte ins Blickfeld nehmen.
Mehrheitlich geht der Sammelband auf Vorträge zurück, die anlässlich eines Festkolloquiums zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Konrad Kunze (Freiburg i.Br.) gehalten wurden. Dessen Verdienste um die Heiligen-, Legenden- und Namenforschung – Letztere hat der Jubilar in maßgeblicher Weise vorangetrieben – würdigt Kathrin Dräger im Vorwort, wo es heißt: „Der vorliegende Sammelband setzt sich zum Ziel, die Reflexe der Heiligenverehrung übergreifend in verschiedenen Bereichen der Onomastik zu beleuchten und damit neue Impulse kulturgeschichtlicher Forschung zu liefern“ (v). Fünf Beiträgen zur Anthroponomastik folgen drei Aufsätze zur Toponomastik sowie weitere fünf Arbeiten zu mehreren anderen Namenkategorien, u.a. zu Ergo- und Praxonymen.
Indem Kathrin Dräger mit „Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino“ (1–15) den innerhalb der verschiedenen Namenklassen stark variierenden Forschungsstand knapp umreißt, führt sie in die Thematik ein. – Wolfgang Haubrichs („Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien“, 17–40) untersucht die im 7./8. Jahrhundert in der Romania und in germanisch-romanischen Interferenzgebieten liegenden westeuropäischen Anfänge der Namengebung nach regionalen und lokalen Heiligen und konstatiert bemerkenswerte Unterschiede der Nachbenennung in den Rhein- und Mosellanden, der Île-de-France, im langobardischen Oberitalien und in den nördlich der Alpen unmittelbar anschließenden Räumen Altbaierns und Salzburgs. Er beschließt seine Analyse mit der Feststellung, man werde wohl damit rechnen müssen, „dass die Nachbenennung nach regionalen Heiligen ihren Ausgang vom Westen, vom Pariser und Trierer Raum, und vor allem vom oberitalienischen Süden nahm“ (36). – Rosa und Volker Kohlheim, nach denen die HeiligenN im 12. Jahrhundert von Frankreich aus in den deutschen Westen und Südwesten eingeführt wurden, betonen in ihrer „Heiligenamen als Rufnamen“ titulierten Zusammenschau (41–65) dagegen, dass es sich bei der Verbreitung der neuen Namen um einen nicht in engem Kausalzusammenhang von Spiritualität und Namengebung zu sehenden weiträumigen Diffusionsprozesses handelt, „der in Byzanz und den byzantinisch beeinflussten Gebieten seinen Ausgang nimmt und Deutschland mit einer Verspätung von rund 300 Jahren nicht von Italien aus, sondern über Frankreich erreicht“ (44). Einem Überblick über das Heiligennameninventar folgen Ausführungen zur evangelisch-lutherischen und zur katholischen Namengebung mit der Feststellung, dass sich eine stärkere Differenzierung zwischen protestantischer und katholischer Namengebung erst ab dem späten 17. Jahrhundert herausbildet und die derzeit unter den beliebtesten Vornamen in Deutschland befindlichen „Heiligennamen“ wie Anna, Marie; Paul, Felix weniger aus religiösen, sondern meist aus euphonischen Gründen vergeben werden: „Säkularisierung, postmoderne Beliebigkeit, Modeabhängigkeit, Internationalisierung – dies sind Begriffe, mit denen sich die aktuelle VorN-Gebung charakterisieren lässt“ (59). – Friedhelm Debus, mehrfach auf seine persönlichen Erfahrungen mit der Namenwelt im Umkreis von Marburg/Lahn zurückgreifend, behandelt „Die biblische Elisabeth und Elisabeth von Thüringen im Spiegel der deutschen Namengebung“ (67–87), indem er im Anschluss an einen Überblick zur Vita der späteren Heiligen mittels sog. Zeitfenster die Elisabeth-Namengebung in Deutschland skizziert. Insgesamt wird auch hier sichtbar, dass es „durch die Reformation keinen Bruch in der traditionellen Namengebung gab und besonders Elisabeth weiterhin ein sehr beliebter Name blieb“ (72). Was die Benennung nach der biblischen heiligen Elisabeth, Mutter Johannes des Täufers, betrifft, so kann bisher nur das Rheinland angeführt werden, wo zahlreiche Belege des 12. Jahrhunderts der Patronin Thüringens und Hessens zeitlich vorausgehen. Gegen Ende seines Aufsatzes, dem eine Anzahl aufschlussreicher Karten zur Verbreitung entsprechender FamilienN (Metronymika) beigegeben sind, verweist der Autor auf weitere der Bearbeitung harrende Fragen. – Da sich der noch nicht erschienene Band VI des „Deutschen Familiennamenatlas“ (DFA) bei der Behandlung der Patronymika im Gegensatz zum „Digitalen Familiennamenwörterbuch Deutschlands“ (DFD) größere Beschränkungen auferlegen muss, demonstrieren Rita Heuser und Kathrin Dräger („Gilles, Schillo und Jülg“. Der Heiligenname Aegidius in Familiennamen in Deutschland“, 89–108) mit den FamilienN aus dem RufN Aegidius, einem komplexen Fall mit hoher Diversität und weiter Verbreitung (vgl. S. 90), exemplarisch, „wie mit Hilfe der FamN-Geographie und der systematischen Erschließung von Namenfeldern ein Überblick über die Bildungsweisen und die Zuordnung einzelner Varianten erarbeitet werden kann“ (89). Beim Vergleich der 9 beigegebenen Karten zeigt sich kein geschlossenes Verbreitungsgebiet, sondern „ein Verbreitungsraum, der sich von Westfalen über Mittel- und Süddeutschland erstreckt, lediglich der Norden Deutschlands ist ausgespart. Dabei sind die einzelnen unterschiedlich gebildeten Kurzformen sehr regionalspezifisch ausgeprägt“ (105). – Hubert Klausmann („Familiennamen aus Heiligennamen und die großen südwestdeutschen Dialektgrenzen“, 109–120) kann nachweisen, dass wichtige Dialektgrenzen tatsächlich mit familiennamengeographischen Grenzen zusammenfallen. Es sind dies die dat/das-Linie (Moselfränkisch/Rheinfränkisch) mit Fällen wie Dahm und Mattern, die schwäbisch-fränkische Dialektgrenze in Ostwürttemberg mit klarem Nord-Süd-Entfernungsgegensatz von z.B. Vaas und Joas, die schwäbisch-bairische Dialektgrenze mit linkslechischen (u.a. Mengele) und rechtslechischen FamilienN (Mertl usw.) sowie die westalemanisch-ostalemannische Sprachgrenze am badischen Oberrhein (z.B. Broß im Rheintal und Klausmann im Schwarzwald). Solche Konstellation erlaubt Rückschlüsse auf das Alter dieser Grenzen.
Den toponomastischen Komplex eröffnet Karlheinz Hengst mit seinem Beitrag „Namen von Kirchenheiligen sowie Heiligen und Sankt in Siedlungsnamen im östlichen deutschen Sprachraum“ (121–147), in dem, nach Ländern gegliedert, die Hagiotoponyme im ostmitteldeutschen Sprachgebiet erstmalig zusammengestellt und chronologisch sowie strukturell (sprachliche Besonderheiten: Art der Aufzeichnung [Latinisierung, (in)offizieller Gebrauch etc.], Wortbildungstypen, Inventar und Häufigkeit der 30 ermittelten Kirchenheiligen usw.) analysiert werden. Die behandelten Hagiotoponyme, mehrheitlich auf Basis der mit der deutschen Besiedlung seit dem 12. Jahrhundert in den Osten gekommenen Heiligennamen entstanden, lassen „neben der Kontinuität über die Jahrhunderte auch unterschiedliche Veränderungen“ (121) erkennen, z.B. sprachliche Reduktion infolge von Sprachökonomie, durch den Geist der Reformation beeinflusste Veränderungen (Verlust von Sankt seit dem 16. Jh.) einerseits sowie anderseits gelegentliche Rückgriffe auf mittelalterliche Heiligennamen und Ähnliches. – „Nordwestdeutsche[n] Klosternamen als Namenkategorie mit Besonderheiten“ (149–176) widmet sich Kirstin Casemir. Ermittelt werden soll, inwieweit sich die von W.-A. von Reitzenstein (1996) vorwiegend „an den bayerischen KlosterN beobachteten Bildungsweisen auch in den KlosterN Nordwestdeutschlands finden lassen und/oder weitere Besonderheiten festzustellen sind“ (150). Bereits die Erarbeitung des Korpus von 680 geistlichen Einrichtungen (neben Klöstern auch Stifte, Beginen- und Schwesternhäuser) mit ihren etwa 150 Patronen zeigt, wie differenziert die ausgewerteten Quellen – vorwiegend Klosterbücher – zu behandeln waren: im Hinblick auf die Namenhaftigkeit von Bildungen wie claustrum sancti xy, die einzelnen Orden, bezüglich des Verhältnisses von Name bzw. Bezeichnung einer geistlichen Einrichtung und Siedlung bzw. SiedlungsN, betreffs Formenvarianz, Umbenennungen usw. Aus Kirstin Casemirs akribischer Untersuchung, deren zahlreiche Detail-Ergebnisse hier nicht referiert werden können, sei – ausgewählt – nur Folgendes angeführt: Es lässt sich festhalten, „dass die nordwestdeutschen KlosterN keineswegs ausgeprägt ,Gottesminne atmen‘. Zwar kommen die von v. Reitzenstein (1996) angesprochenen religiösen Namen, Benennungen nach den Insassen, appellativischen Klosterbezeichnungen oder Namenübertragungen gelegentlich vor. Sie stellen jedoch nur eine recht geringe Anzahl dar“ (172). – Thema des Beitrags von Thomas Franz Schneider ist die „Hagiotoponymie im Kanton Bern“ (177–196) zunächst hinsichtlich ihres Bildungstyps (Markierung durch den festen Namenbestandteil lat. sanctus/Santa, dt. Sankt, frz. Saint/Sainte, it. Santo/Santa) und ihres Anteils (etwa 2,5%) und an den Namen der politischen Gemeinden der Schweiz. Neben einigen Exkursionen wird des Weiteren mit besonderer Beachtung der in der Westschweiz „einheimischen“ heiligen Adelheid eine Auswahl von mit HeiligenN gebildeten Flur- und SiedlungsN vorgestellt und der Frage nachgegangen, welche Spuren die Reformation (1528) in der Berner Hagiotoponymie hinterlassen hat. Zu Letzterem heißt es: „In den Reformationsakten finden sich keine Hinweise darauf, dass der Berner Rat explizit von seiner (…) nomenklatorischen Kompetenz Gebrauch gemacht hätte. Die untergegangenen Hagiotoponyme sind wohl ganz einfach mit dem oder der sie bezeichnenden Heiligen verschwunden bzw. durch einen neuen Namen ersetzt worden. Gelegentlich konnte, wo die Sache bestehen blieb, (… ) auch der alte Name weiter in Gebrauch bleiben“ (190).
Dietlind Kremers Untersuchung „Heiligenverehrung und ostmitteldeutsche Namen“ (197–222), in der die Frage aufgeworfen wird, welchen Niederschlag die spätmittelalterliche Heiligenverehrung im Osten Deutschlands in verschiedenen Namenkategorien gefunden hat, „stellt insofern eine besondere Herausforderung dar, als es sich bei Mitteldeutschland um das Kernland der Reformation handelt“ (179). In Orts- und PersonenN als auch Patrozinien kann sie dennoch reichlich Spuren sowohl der vorreformatorischen Heiligenverehrung als auch deren Reflexe in der Namenwelt feststellen. Auf Grund einschlägiger Untersuchungen konstatiert die Autorin z.B. das Aufkommen der HeiligenN im RufN-Schatz für das 13. Jh. (Anm. 2). Was die entsprechenden FamilienN betrifft, so fragt Dietlind Kremer u.a., inwiefern die in ihnen enthaltenen RufN der Rekonstruktion mittelalterlicher Verehrungsgebiete dienen (heutiges Donath als „indirekter Reflex“ der Verehrung des Märtyrers Donatus, 211) und welche regionalspezifischen (Laut-)Formen besondere Beachtung verdienen. Am Schluss heißt es: „Während beim Großteil der vorgestellten Toponyme von primärer Benennung nach Heiligen auszugehen ist, lässt sich dies bei den RufN nicht quantifizieren. FamN beziehen sich in jedem Fall nicht direkt auf den betreffenden Heiligen, sondern transportieren allenfalls das Benennungsmotiv des zugrunde liegenden RufN weiter“ (218).
Zwei Linien verfolgt Simone Berchtold in ihrem Aufsatz „Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt und Co. Heiligennamen in Familiennamen und anderen Namenklassen der Schweiz“ (223–255). Zum einen werden exemplarisch die allseits verehrten „Universalheiligen“ Jakob, Johannes, Martin und Jodok im FamilienN-Material untersucht, zum anderen ist an den Namen Verena, Regula, Beat und Himerius (im Wesentlichen kleinräumiges Auftreten) zu klären, „ob es nicht doch regionale Heilige gab, die Spuren in den FamN hinterlassen haben“ (224). Während für Jakob, Johannes, Jodok eine West-Ost-Staffelung zu verzeichnen ist, treten Lokalkulte wie Regula und Beat, auch Himerius, sehr kleinräumig auf, kaum vom ursprünglichen Wirkungsort des Heiligen entfernt. HeiligenN in Praxonymen und Ergonymen wird exemplarisch am Beispiel von St. Alban und St. Jakob nachgegangen. Ein Tokenvergleich bei Jakob, Johannes und Martin zeigt, dass die typischen Schweizer Varianten (Anhang 254f.: Jäckli, Haenggi; Marty, Martig usw.) in Deutschland quantitativ nicht ins Gewicht fallen.
Mit „Maria, Heil der Kranken, Heilige in Apothekennamen“ (257–269) untersucht Fabian Fahlbusch eine Kategorie von Toponymen, die sich im Laufe der Zeit zu Ergonymen (Unternehmens-/GeschäftsN), entwickeln und „ nicht mehr an ein konkretes Gebäude gebunden sind und stattdessen immer individueller werden“ (257). Nach einleitenden Ausführungen zur (Namen-)Geschichte der Apotheke, einem Überblick über die häufigsten Apothekennamen 1937 (Adler-, Löwen-, Stadt-Apotheke) und 2013 (Löwen-, Stadt-, Adler-Apotheke), Letztere mit Karten zur Verbreitung, werden die häufigsten Heiligen in den Apothekennamen ebendieser Jahre aufgeführt (Maria, Hubertus, Johannes usw. vs. Maria, Hubertus, Georg etc.), wobei sich herausstellt, dass ApothekenN mit HeiligenN gehäuft im katholisch geprägten Süden und Westen Deutschlands – besonders in Bayern und im Rheinland – auftreten. Beobachtungen zur Bildungsweise der ApothekenN (aus der Heiligen-Top Ten) und Desiderata zur weiteren Erforschung dieser Namenklasse beschließen den Aufsatz.
„Welche Produkte tragen HeiligenN, und was sind die Motive für diese Namengebung? Finden sich beispielsweise Bezüge zur Vita des Heiligen, auf den der Name zurückgeht?“ (271): Solche und ähnliche Fragen beschäftigen Sandra Reimann in ihrem Beitrag „Sankt Martin und Sankt Mokka. Echte und unechte Heiligennamen als Markennamen“ (271–291). Das Korpus von 168 Belegen basiert auf den mit dem Zusatz Sankt geführten, einen Personen- oder OrtsN enthaltenden Namen im Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA), bei denen es im Zusammenhang mit deren (Haupt-)Funktion als Werbeträger? (Anm. 3) um die Motivation geht. „Gängig ist es, den MarkenN im Hinblick auf die Funktion des Heiligen als Schutzpatron auszuwählen“ (277): Sankt Hubertus als Marke für Bekleidungsstücke, Sankt Hildegard [von Bingen] für Arzneimittel, Kindernährmittel, Spirituosen; Monstranzen, Kelche, Juwelierwaren, Bücher usw., darunter Produkte, die nicht durchweg zu den Nahrungsmitteln und Getränken gehören. Um die Motivation der relativ seltenen „unechten“ Heiligennamen wie Sankt Mokka für eine katholische Pfarrkirche St. Hubertus oder Sankt EXentrico für eine künstlerische Leistungen anbietende Person zu ergründen, ist keinerlei Heiligenlexikon zu befragen, sondern an Ort und Stelle jeweils Auskunft einzuholen. Nach Ausführungen zur Morphologie der HeiligenN als MarkenN und Aussagen zur Häufigkeit (Sankt Pauli vor Sankt Georg und Sankt Michel) zieht die Autorin ein zusammenfassendes Fazit.
Mit seinem Beitrag „Heiligennamen in der volkssprachlichen Liturgie“ (293–301) beschließt Albrecht Greule den Band. Für seine textkonstitutiven bzw. textpragmatischen Erörterungen, die mit einer Analyse der textgrammatischen Strukturen des Mainzer volkssprachlichen Bonifatius-Liedes beginnen, ist die Klärung des Begriffs HeiligenN notwendige Voraussetzung. Er definiert kurz und präzise: „Ein HeiligenN/Hagionym ist ein im Martyrologium Romanum (oder im Ökumenischen Heiligenkalender) verzeichneter, mit dem Attribut heilig versehener PersonenN“ (395). Anschließend stellt der Autor dar, auf welche Weise die HeiligenN des in Latein verfassten Martyrologiums in die volkssprachliche Kommunikation und an das deutsche Sprachsystem angepasst wurden.
Alle Texte des hier besprochenen Sammelbandes, denen umfangreiche Literaturverzeichnisse beigegeben sind, zeugen von den vielfältigen Impulsen, die von Konrad Kunzes mediävistischem und sprachhistorisch-onomastischem Œuvre ausgehen, und bieten „Inspirationen zur weiteren Erforschung der Hagionyme sowohl unter neuen Blickwinkeln als auch in bislang unbeachtet gebliebenen Namenklassen“ (Dräger 11).
Da die Kategorie der StraßenN nicht explizit behandelt, sondern hier und da nur beiläufig gestreift wird, sollen im Folgenden einige Beobachtungen mitgeteilt werden, die andeutungsweise erkennen lassen, welcherlei Perspektiven sich hinsichtlich der Subkategorie ,mit Heiligennamen gebildete StraßenN‘ (StrNHag) eröffnen können. Wir führen dabei Gedanken fort, wie sie in einer ersten Veröffentlichung zur Frage der Auswertung digital gespeicherter StraßenN (Quelle: CD D-Info Herbst ’99, Topware AG Mannheim) geäußert wurden (Hellfritzsch 2006).
Zunächst ist festzustellen, dass dieser Namentyp im Gesamtinventar der deutschen StraßenN eine relativ untergeordnete Rolle spielt. Im Verzeichnis
http://www.strassen-in-deutschland.de/die-haeufigsten-strassennamen-in-deutschland.html (12.12.2016) steht
Marienstraße –
Maria wird in mehreren Beiträgen des Sammelbandes als das für die Bildung/Motivierung entsprechender Onyme dominante Hagionym erkannt – innerhalb der 200 häufigsten StraßenN Deutschlands als einziger Vertreter seines Typs erst an 87. Stelle. (Anm. 4) Im Zusammenhang mit der in dem Band „Heiligenverehrung und Namengebung“ behandelten Problematik dürften den StraßenN aber insofern eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommen, als anzunehmen ist, dass ihnen – abgesehen von vormodernen Benennungen der zu den Sakralbauten hinführenden Wege, Gassen, Plätzen usw als „Zeichen des Sehens“ (Glasner 2002: 35ff.) – ein relativ hohes erinnerungskulturelles Potential im Sinne der „kollektiven wie subjektiven Wahrnehmungen historischer Zusammenhänge aus einer aktuellen Perspektive“ (Anm. 5) innewohnt.
Unsere Karten beziehen sich auf Types mit der jeweils größten Anzahl von Tokens, wobei in der übergroßen Mehrheit der Belege, nicht aber in jedem notwendigerweise genauer zu recherchierendem Einzelfall von einer hagionymischen Konstituente auszugehen ist.
Abb. 1 bestätigt die ungefähre Deckungsgleichheit von StraßenN und RufN sowie darauf zurückgehenden FamilienN zum Namen des heiligen Lambert von Maastricht (von Lüttich), auch Patron von Freiburg/Breisgau (Schauber/Schindler 1992: 486) mit den Verehrungszentren im westlichen Niedersachsen (hier stärker die genitivische Form Lamberti-), in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mit Konzentration der latinisierten -us-Formen, dazu im Saarland (vgl. Dräger 4).
Abb. 2 mit ihrer hohen Dichte von
Kilian-StraßenN, vor allem dem Main entlang, bestätigt – ähnlich wie im Fall von
Lambert – tendenziell die Verehrungszentren des Schutzpatrons der Diözese Würzburg und von Franken (vgl. Dräger 5-7 und Karten 1 und 2), wobei die Vorkommen im östlichen Nordrhein-Westfalen die große Wertschätzung widerspiegeln dürften, die der heilige Kilian auch im Bistum Paderborn genießt (Schauber/Schindler 1992: 342).
Abb. 3: StrNHag nach Severin von Köln, dem Patron ebendieser Stadt, finden sich, wie nicht anders zu erwarten, konzentriert im regionalen Umfeld und dem gesamten Rheinland (vgl. DFA 2, Karte 354:
Frings,
Krings,
Brings,
Rings), streuen aber vereinzelt bis in den Norden und Süden. – Das Hagionym
Willibrord (von Echternach), Name einer der führenden Persönlichkeiten der angelsächsischen Mission auf germanischem Boden, der bereits vor Bonifatius die Missionierung der Friesen betrieben hatte und sich zeitweise auch in Thüringen aufhielt, Patron von Luxemburg und auch in den Niederlanden verehrt (Schauber/Schindler 1992: 574f.), findet vor allem in StraßenN entlang der Westgrenze Deutschlands, besonders am Niederrhein und – verständlicherweise – im Saarland Niederschlag. – Was den heiligen Benno von Meißen betrifft, Patron von München, Altbayern und des Bistums Dresden-Meißen (ebd., 296ff.), so finden sich zwar Spuren von StrNHag mit seinem Namen in Sachsen, wo die Verehrung seines Grabes im Dom zu Meißen nach seiner späten Kanonisation (1523) im albertinischen Sachsen vor der Reformation (1539) keine große Rolle mehr gespielt haben kann (Kremer 204f.), und erstaunlich wenige in Bayern, mehrere dagegen wieder in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
Abb. 4 bezieht sich mit der Verbreitung von StrNHag zu St. Anna und St. Wolfgang auf Heilige, deren Verehrung nicht nur in regionalen, sondern in größeren Bezügen zu sehen ist. Die heilige Anna, Mutter Marias (Anm. 6), ist in den Straßennamen ganz Deutschlands, dennoch aber mit auffälliger Häufung jenseits des Mains, im gesamten Süden vertreten. Als Patronin der Bergleute ist ihr Name durch herzogliche Veranlassung und kaiserliche Verleihung 1501 an die Stelle der bisherigen Bezeichnung Neustadt am Schreckenberg getreten (1496 bereits St. Annabergk [HONB 1, S. 20f.], hat aber in den StraßenN der Region keinerlei Spuren hinterlassen (Anm. 7). Bemerkenswert und (vorerst) nicht plausibel zu erklären ist die Streuung der flektierten Form St. Annen- fast ausschließlich in Norddeutschland. St. Wolfgang, Patron von Regensburg und Bayern (Schauber/Schindler 1992: 559f.; Kohlheim/Kohlheim 51), erweist sich im Süden Deutschlands dagegen als ausgesprochen oberdeutscher Heiliger.
Abb. 5: StrNHag zum Namen der heiligen Elisabeth, Patronin von Thüringen und Hessen und einer der „großen Frauengestalten der katholischen Kirche, ja der Geschichte überhaupt“ (Schauber/Schindler 1992: 596ff.), finden sich ihrer Bedeutung entsprechend in ganz Deutschland, häufen sich verständlicherweise in Hessen mit Marburg als Zentrum der Verehrung und darüber hinaus bis in den Raum Mainz, allerdings, wie andere der hier vorgestellten StraßenN, besonders auch in Nordrhein-Westfalen. Bemerkenswert sind hier die fast ausschließlich für Hessen und sich weiterhin nach Süden erstreckenden flektierten Formen im Genitiv. Die von Debus (80f.) gebotenen, für unseren Zweck heranzuziehenden Karten 1 und 2 zu FamilienN wie Elisabeth, Li(e)sbeth; Els(s)e, Elsen usw. lassen das hessische „Kerngebiet“ weniger stark hervortreten als unsere StrNHag, rücken jedoch den westlichen Verbreitungsraum von Nordrhein-Westfalen bis Baden-Württemberg und Bayern deutlich erkennbar ins Blickfeld.
Abb. 6 visualisiert die Verteilung von StrNHag mit dem Namen des heiligen Nikolaus von Myra, Patron zahlreicher Berufs- und Personengruppen (Dräger 2013: 22–26), des im Osten nach Maria am meisten verehrten Heiligen (Schauber/Schindler 1992: 629ff.). Letzteres zeigt sich nun auch in einer stärkeren Repräsentanz von Nikolaus-StraßenN in den östlichen Bundesländern, wobei der äußerste Norden dennoch relativ unberührt bleibt. Trotz allem finden sich die häufigsten Belege wieder im Westen, wobei eine merkwürdige „Linienbildung“ von Nord nach Süd mit Verdichtung wieder im Rheinland auffällt. Hervorzuheben ist wieder eine Besonderheit der Namensbildung: das stärkere, ja fast ausschließliche Vorkommen von genitivischen Nikolai-Formen im Osten.
Abb. 7 zeigt StrNHag, die zum Namen des populären heiligen Vitus, eines der Vierzehn Nothelfer (Anm. 8), gebildet sind. Sie sind auf den Westen und Süden Deutschlands verteilt und lassen mit der Dominanz der Veit-Variante südlich des Mains trotz ihrer relativ geringen Zahl – ähnlich den FamilienN Vieth/Veith (DFA 1, Karte 178) – im Großen und Ganzen bereits die auf der neuhochdeutschen Diphthongierung beruhende Varianz i(e)/ei bei Patronymen aus fremdsprachigen RufN erkennen.
Auch wenn man nicht von einer 1:1-Relation ausgehen kann und onymisch-typologische Eigenheiten und Sonderentwicklungen in Rechnung stellen muss, so deuten unsere Karten dennoch darauf hin, dass die hier vorgestellten StrNHag – weitestgehend „Mnemotope“ (Nübling/Fahlbusch/Heuser 2012: 244) – die Verehrungsgebiete der Heiligen, insbesondere der regional begrenzten, relativ gut abbilden. Im Gegensatz zum Osten, wo sich durchaus onymische Spuren vorreformatorischen Heiligenkults in unterschiedlichen Namenklassen (Kremer) und mit der im 12. Jahrhundert einsetzenden deutschen Besiedlung „ecclesiogene OrtsN“ (Hengst 139) nachweisen lassen, und im Großen und Ganzen auch konträr zum Norden Deutschlands, die von StrNHag weithin frei bleiben, hebt sich Nordrhein-Westfalen als im Vergleich zur gesamten Bundesrepublik überdurchschnittlich stark katholisch geprägtes Land (Anm. 9) durch ein hohes Aufkommen an StraßenN, die zu HeiligenN gebildet wurden, hervor.
Literatur
Böhm, Georg / Donnerhack, Rudolf et al. (1970): Die Straßennamen der Stadt Plauen, Plauen.
DFA = Deutscher Familiennamenatlas, hg. von Konrad Kunze und Damaris Nübling, Bände 1 und 2, Berlin/New York. 2009/2011.
Dräger, Kathrin (2013): Familiennamen aus dem Rufnamen Nikolaus in Deutschland, Regensburg.
Glasner, Peter (2002). Die Lesbarkeit der Stadt. Lexikon der mittelalterlichen Straßennamen Kölns, Köln.
Heintze-Cascorbi (6. Aufl., 1925): Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geographisch, sprachlich, Halle (Saale).
Hellfritzsch, Volkmar (1969): Vogtländische Personennamen, Berlin.
‒ (2006): Zur Auswertung digital gespeicherter Straßenamen. In: NI 89/90, 159–181.
‒ (2009): Studien zur Namenüberlieferung in Mitteldeutschland. Die Personen- und Ortsnamen im Terminierbuch (Liber Benefactorum) des Zwickauer Franziskanerklosters (um 1460), Leipzig.
HONB = Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen, hg. von Ernst Eichler und Hans Walther, 3 Bände, Berlin 2001.
Kohlheim, Volker (1977): Regensburger Rufnamen des 13. und 14. Jahrhunderts. Linguistische und sozio-onomastische Untersuchungen zu Struktur und Motivik spätmittelalterlicher Anthroponymie, Wiesbaden.
Nübling, Damaris / Fahlbusch, Fabian / Heuser, Rita (2012). Namen. Eine Einführung in die Onomastik, Tübingen.
Reichert, Hermann (1908): Die deutschen Familiennamen nach Breslauer Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts, Breslau.
Reitzenstein, Wolf-Armin Freiherr von (1996): Klosternamen, in: Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Berlin/New York, 1593–1596.
Schauber, Vera / Schindler Hanns Michael (1992): Heilige und Namenspatrone im Jahreslauf, Augsburg
Trier, Jost (1924): Der heilige Jodocus. Sein Leben und seine Verehrung, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Namengebung, Breslau.
Anmerkungen
(1) Vgl. u.a. Reichert (1908), Trier (1924), Heintze-Cascorbi (61925), Kohlheim (1977), Dräger (2013), hier mit ausführlichem Literaturüberblick S. 262–281.
(2) Dies betrifft auch die Städte des Vogtlands. Die Landbevölkerung wendet sich hier den neuen HeiligenN im Wesentlichen erst im 14. Jahrhundert, besonders in dessen zweiter Hälfte zu (Hellfritzsch 1969: 16ff.). Da die älteren Quellen insbesondere MännerN verzeichnen, soll hier auf eine große Teile des Vogtlands und des (Vor-)Erzgebirges erfassende Quelle verwiesen werden (Hellfritzsch 2009: 54f.), die FrauenN wesentlich stärker beinhaltet und für die Zeit um 1460 einen relativ umfangreichen Einblick in das entsprechende Inventar gewährt.
(3) Über die Hauptfunktion der hier behandelten Namen scheint noch keine völlige Klarheit zu bestehen, weshalb die Autorin hier wohl ein Fragezeichen setzt.
(7) Um tatsächlich „echte“ StrNHag zu erfassen, wurden Bildungen mit dem weniger häufigen Element St. erfasst und Formen wie Annenstraße, die sich auf andere, weltliche Personen beziehen können, nicht beachtet, vgl. z.B. die Annenstraße in Plauen/Vogtland, die den Namen einer Kurfürstin von Sachsen (1532–1585) enthält (Böhm/Donnerhack et al. 1970: 13). Selbst bei Berücksichtigung der Masse solcher Namen dürfte sich das Gesamtbild nicht prinzipiell verändern.
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