Thursday, January 5, 2017

Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen slawischen Ortsgründern

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Bei der Untersuchung der Niederlausitzer Ortsnamenlandschaft trat eine Erscheinung zu Tage, die Karl Puchner im süddeutschen Raum bei altbayerischen Ortsnamen schon beobachtet hatte (Anm. 1): Benachbarte Siedlungen trugen Namen, deren zugrunde liegende Personennamen weitgehend gleich waren. Diese Übereinstimmung von Namengebungsverfahren in weit voneinander entfernten Siedlungsgebieten, hier in denen von Slawen und Germanen, ließ auf eine sehr altertümliche Benennungsweise schließen, die ihre Wurzeln in voreinzelsprachlicher Zeit hat.
Die Aufgabe der vorliegenden Studie besteht darin, weitere derartige Beispiele aus dem altwestsorbischen Sprachgebiet, hier aus den Slawengauen Nizane, Daleminze und Neletici beizubringen und in größere siedlungsgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen. Wir beginnen mit Nisane, dem Raum um Dresden, wo sich die ersten aus Böhmen kommenden slawischen Siedler seit dem Anfang des 7. Jahrhunderts niedergelassen hatten. Ein- und dasselbe Vollnamenglied *Ľub- haben die Ortsnamen (= ON) Leubnitz, ssö. Dresden, aso. *Ľubanici ʻLeute des Ľubanʼ, Laubegast, sö. Dresden, aso. *Ľubogošč ʻSiedlung des Ľubogostʼ, und der Nachbarort Leuben, aso. *Ľubań ʻSiedlung des Ľubanʼ (Wenzel 2015: 248).
                                                                                           Karte zum Gau Nisani, um 1750
Ein schmaler, einst unbesiedelter Grenzstreifen trennt im Norden Nisane von Daleminze, dessen fruchtbare Gefildelandschaft zwischen dem Elbtal um Meißen im Osten und dem Muldetal im Raum um Grimma im Westen die einwandernden Slawen schon sehr früh in Besitz nahmen (Wenzel 2017: Kap. 6). Eine der ältesten Namenschichten bilden bekanntlich die auf Vollnamen beruhenden ON mit den patronymischen Suffixen -ici und -ovici. Diese Bildungen sind gleich viermal vertreten, wobei drei von ihnen dicht beieinander liegen. Sie alle vereinigt das Vollnamenhinterglied -słav: Domselwitz, nö. Lommatzsch, aso. *Domasłavici ʻLeute des Domasłavʼ, Mettelwitz, sö. Lommatzsch, aso. *Mětisłavici ʻLeute des Mětisłavʼ, sowie Raßlitz, s. Lommatzsch, aso. *Rosłavici ʻLeute des Rosłavʼ mit dem Personennamen (= PN) als einem im Vorderglied gekürzten Vollnamen *Rodosłav oder *Rostisłav. Etwas weiter entfernt liegt Simselwitz, nö. Döbeln, aso. *Sbysłavici ʻLeute des Sbysłav. Wegen seiner Lage östl. der Elbe, sw. von Großenhain, lässt sich nur sehr bedingt Blattersleben hier anschließen, aso. *Bratrosłav́ < *Bratrosłav +  ʻSiedlung des Bratrosłavʼ (Wenzel 2017: Kap. 6, Karte 3 und Karte 2).                                                                               

                                               Lage des Gaus Daleminzi im HRR um 1000
Auf eine aufschlussreiche Ortsnamenkonstellation stößt man im Westen des Daleminziergaues. Dort, n. Leisnig, wsw. Mügeln, liegen dicht beieinander Dobernitz, aso. *Dobromirici ʻLeute des Dobromirʼ, wsw. davon, ca. 3 km entfernt, Doberquitz, aso. *Dobrakovici ʻLeute des Dobrakʼ, in gleicher Richtung 1 km weiter, Doberschwitz, aso. *Dobr(e)šovici ʻLeute des Dobraš, Dobriš, Dobroš oder Dobrušʼ. Man darf annehmen, dass es Söhne oder Enkel des Sippenältesten und Ortsgründers von Dobernitz waren, die die neuen Siedlungen anlegten. Wichtig für die stratigraphische Beurteilung der genannten ON ist, dass der Ausgangsname aus einem Vollnamen und mit dem Ortsnamensuffix -ici gebildet wurde, die beiden nachfolgenden aus Kurzformen und mit -ovici (Wenzel 2017: Kap. 6, Karte 3 und Karte 4).
Eine ganz ähnliche Erscheinung, wie eben beschrieben, ist in der regio Neletici, im Osten des Altkreises Wurzen zu beobachten. Dicht nebeneinander liegen Prempelwitz, aso. *Premiłovici ʻLeute des Premiłʼ, und Meltewitz, aso. *Mil(e)tovici ʻLeute des Milęta oder Miłotaʼ. Hinzu kommen in derselben Gegend Bortewitz, aso. *Bor(e)tovici ʻLeute des Boręta oder Borotaʼ, und das umstrittene Börln, wahrscheinlich aso. *Bor(e)lin ʻSiedlung des Borola oder Borulaʼ (Wenzel 2017: Kap. 3, Karte 1 und Karte 2; Wenzel 2017: Kap. 6, Karte 4).
Außer benachbarte ON mit gleichen Personennamengliedern kann man auch ON mit gleichen Personennamensuffixen mit einander in Beziehung setzen. Diese Erscheinung war schon in der Niederlausitz und anderenorts zu beobachten. Die dicht beieinander liegenden Dörfer Laubst, altnso. *Lubošč ʻSiedlung des Lubostʼ, und Schorbus, altnso. *Skorbošč ʻSiedlung des Skorbostʼ, beide ssw. Cottbus, vereint das seltene Personennamensuffix -ost (Wenzel 2014: 162, 167; Wenzel 2006: 73, 106). In auffälliger Weise reihen sich im Osten des Daleminziergaues, am Ketzerbach und seinen Zuflüssen, Mertitz, ssö. Lommatzsch, aso. *Mirotici ʻLeute des Mirotaʼ, Maltitz, nw. Nossen, aso. *Małotici ʻLeute des Małotaʼ, und Saultitz, n. Nossen, aso. *Sułotici ʻLeute des Sułotaʼ, auf. Etwas weiter entfernt von ihnen liegen Poititz, w. Lommatzsch, aso. *Bojetici ʻLeute des Bojetaʼ, und Trebanitz, wsw. Lommatzsch, aso. *Trebotici ʻLeute des Trebotaʼ (Wenzel 2017: Kap. 6, Karte 3).

Die Einwanderung der Slawen erfolgte in kleineren und größeren Gruppen, organisiert in Sippen, Sippenverbänden und Kleinstämmen, die nicht nur durch die gleiche Abstammung, enge familiäre Beziehungen, sondern auch die gleichen Glaubensvorstellungen, den gleichen „heidnischen“ Kult und den gleichen urslawischen Dialekt mit einander verbunden waren. Darüber hinaus einte sie das gleiche Ziel: Die Gewinnung neuen, besseren Lebensraumes. Welche Faktoren bei der Landnahme der Slawen in der Zeit der Völkerwanderung noch eine Rolle spielten, so die Kriegszüge der Avaren, mögliche Klimaveränderungen u. dgl., wissen wir nicht genau. Die verwandtschaftlichen Beziehungen in der Gruppe fanden in den Rufnamen der Menschen ihren sprachlichen Ausdruck, vor allem durch Weitergabe einzelner Namenglieder von Namenkomposita der Eltern, durch Nachbenennung oder, so bei den Germanen, durch Alliteration. Auch gleiche Personennamensuffixe konnten diese Aufgabe erfüllen. Auf diese Weise vermochte der Rufnamen über seine Grundfunktion hinaus, die Identifizierung einer Person, in der Kommunikation und im Zusammenleben der Menschen eine weitere Aufgabe zu erfüllen, die Abstammung, die Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, einer Sippe, oder später einem adeligen Geschlecht kundzutun. Bei der Niederlassung in einem bestimmten Territorium spiegelten sich diese verwandtschaftlichen Bindungen und die Abstammung in PN wider, von denen ON gebildet wurden. Diese relativ selten nachweisbare Art der Ortsnamengebung fand in der slawistischen Namenkunde bisher keine Beachtung.
Die altsorbische Ortsnamenlandschaft hält immer wieder Überraschungen für uns bereit, die Blicke in eine längst vergangene Zeit erlauben.
Anmerkung
Anm. 1: Walter Wenzel, Gruppenbildung von Ortsnamen mittels Personennamen – in Bayern und in der Niederlausitz, in: Wenzel 2014: 159–170.
Literatur:
Wenzel, Walter (2006): Niederlausitzer Ortsnamenbuch, Bautzen.
‒ (2014): Namen und Geschichte, hg. von Andrea Brendler und Silvio Brendler, Hamburg.
‒ (2015): Slawen in Deutschland. Ihre Namen als Zeugen der Geschichte, hg. von Andrea Brendler und Silvio Brendler, Hamburg.
‒ (2017): Die slawische Frühgeschichte Sachsens im Licht der Namen, hg. von Andrea Brendler und Silvio Brendler, Hamburg [im Druck].

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